Diskussion
Das Sein bestimmt das Bewusstsein – oder umgekehrt?
Die aktuelle Protestbewegung ist wieder zur Normalität zurückgekehrt und erschöpft sich in den Ritualen, die man schon seit ewigen Zeiten kennt. Protestaktionen und Demos laufen unter den ewig gleichen Dramaturgien ab, die sich in der Form kaum von den einschlägigen Veranstaltungen gerade der Parteien unterscheiden, die man selbst der Kritik unterzieht. Die ewig gleichen Textbausteine, die unter frenetischem Beifall derjenigen abgelassen werden, die diese ohnehin schon mit der revolutionären Muttermilch aufgesogen haben, locken niemanden mehr vom Phlegmatensofa.
Dabei hatte alles so viel versprechend angefangen mit dem Marsch der Indignados und dem Camp von Occupy-Wallstreet. Was an diesen Protesten faszinierte, war die Hoffnung auf eine Gegenkultur, welcher es gelingen sollte, die politischen Forderungen in einen verspielten, phantasievollen Rahmen einzubetten, dem Grau-in-Grau der Sachzwangs-normopathen ein lebendiges Provisorium entgegen zu setzen, aus dem sich eine neue Kultur entwickeln ließe. Und gerade darum geht es ja: Die Industriegesellschaft in eine Kulturgesellschaft zu verwandeln.
Die letzte, durchaus als “kulturell” zu bezeichnende Revolution war die 68er Bewegung, auch wenn sie gerne als gescheitert bezeichnet wird. Hierbei wird jedoch ausschließlich der politische Aspekt berücksichtigt, wobei allerdings vergessen wird, dass es die Grünen ja heute noch gibt, die ihre Wurzeln in der damaligen Revolte haben. Dass diese Revolte ihrem Wesen nach eine Kulturrevolution war, die ein gänzlich neues Lebensgefühl und kulturelles Bewusstsein hervor brachte, kann nur beurteilen, der die bigotte Zeit zuvor noch gekannt hat. Neben den kulturellen Konzepten in Kunst, Musik, wie überhaupt im ganz normalen Lebensvollzug war der politische Aspekt nur ein vergleichsweise nebensächlicher Aspekt, der allerdings heute – pars pro toto – als Indiz für das gesamte Scheitern des Projektes der 68er herhalten muss.
In den Köpfen der heute einseitig politisch orientierten Protestbewegung spuken die Erfahrungen mit den spirituellen Aussteigern der 68er Zeit herum. Diese hatten sich tatsächlich aus der Verantwortung für die breite Masse verabschiedet in das eigene individuelle Glück abseits im “ihrem” Ashram. Doch waren diese nie wirklich politisch interessiert. Ihnen stand eine Lebensart vor Augen, die sie für sich selbst als optimal betrachteten; eine andere Spielart des heutigen individuellen kleinen “Glücks der Mücke”..
Wie heute auch stand bei den klassischen Protesten von der Arbeiterbewegung bis zur APO der marxsche Satz im Vordergrund, dass das Sein das Bewusstsein bestimme. Der integrale Ansatz sieht hier eine gegenteilige Dynamik, dass nämlich das Bewusstsein das Sein bestimme. Der Integrale Ansatz geht davon aus, dass eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse nur dann bleibend herbei geführt werden kann, wenn sich in jedem einzelnen eine Veränderung vollzieht, die vom materialistischen Daseins-Entwurf weg, hin zu einem spirituellen führt; wobei spirituell einfach geistig-kulturell (nicht geistlich) bedeutet. Das bedeutet, dass auf breiter Ebene das Sein vor dem Haben steht. Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt, gehe ich davon aus, das “revolutionäre Aktivisten” und “Integrale Aktivisten” das gleiche Ziel anvisieren, nämlich eine bessere, gerechtere, lebenswertere Weltgesellschaft und sich in ihren differenten Ansätzen ergänzen. Ich versuche dieses an dem bedenkenswerten Satz von Marx zu klären. Wie steht das also mit dem Satz: “Das Sein bestimmt das Bewusstsein”? Oder geht das auch anders herum?
Das Sein bestimmt das Bewusstsein – in der Mangelgesellschaft
Hier muss man den historischen Zusammenhang sehen, der Marx zu dieser Diagnose geführt hatte. Im 19. Jahrhundert war die Situation der Menschen die eines Mangels; das allgemeine Bewusstsein war ein Mangelbewusstsein. Und dieser Mangel war real, d.h. existentiell, was bedeutete, dass das Überleben tatsächlich zur Disposition stand, dass Armut durchaus bedeuten konnte zu verhungern. Derart mit dem Rücken an der Wand hieß das, auch mit der Waffe in der Hand zu kämpfen, da man doch nichts zu verlieren hatte. Wenn das physische Sein derart bedroht war, führte das zu einer entsprechenden Prägung des Bewusstseins; zu einem Kampfbewusstsein, zu einem Überlebenswillen aus Verzweiflung. In einem derartigen Dilemma befindet sich der deutsche Hartz-IV-Empfänger in einer ähnlichen Lage, wie der Jugendliche im Gaza-Streifen. Der junge Palästinenser, Afghane, Tamile etc. weiß, dass er zu der Welt, die ihm tagtäglich in den Medien präsentiert wird, nie Zugang haben wird. Er weiß, dass unser Reichtum auf seine Kosten zustande gekommen ist. Auch wenn ihm das nicht klar ist, sieht er nur, dass es einem Teil der Menschen einfach besser geht und der seinen Reichtum auch permanent zelebriert. In diesem Mangelbewusstsein, ohne Hoffnung, dass er aus eigener Kraft da jemals heraus kommen kann, ist er anfällig für die Heilsversprechungen religiöser Doktrinäre: Wenn schon nicht in diesem Leben kann er doch wenigstens im Jenseits zu den Gewinnern gehören und das stellt einen erstrebenswerten Ausweg dar. So kommt der Terrorismus in die Welt.
Das Bewusstsein bestimmt das Sein – in der Überflussgesellschaft
Die Forderung nach einer Echten Demokratie Jetzt richtet sich an die Gesellschaft in der wir leben – die Gesellschaft der reichen Industrienationen. Diese sind für die aktuellen Probleme in sozialer und ökologischer Hinsicht auf globaler Ebene verantwortlich. Es sind einfach unsere Überflussgesellschaften, in denen der Lebensstil der einzelnen, befreit vom Kampf ums überleben, das Maß des unbedingt zum Leben notwendige um ein vielfaches überschreitet. Es herrscht ein Mangelbewusstsein inmitten des Überflusses, eine Inflation der Bedürfnisse ohne Aussicht auf Befriedigung. Zwischen Kunden und Konzernen besteht ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Junkie und Dealer. Der metaphysisch obdachlos gewordene Mensch glaubt, sein spirituelles Defizit durch materielle Befriedigung kompensieren zu können. Mit der Akkumulation des Habens tritt jedoch keine anhaltende Zufriedenheit ein, sondern ein gesteigerte Bedürfnis nach noch mehr Haben. Ein derartiges Sein, das über das Haben definiert ist, schafft eben auch ein Bewusstsein, das in Summe die Existentgrundlage aller Wesen, nicht nur eines menschenwürdigen Lebens, zunichte macht. Die Wirtschaft kommt diesem Verlangen nach immer mehr und immer Neuem nur zu gerne nach. Es liegt im eigenen Interesse des Marktes, dieses chronifizierte Mangel-Bewusstsein bei Fehlen eines eigentlichen und begrenzten Bedarfs aufrecht zu erhalten. So entsteht eine maliziöse Spirale nach immer mehr, die keine Grenze kennt – bis die Erde diesem und allem menschenwürdigen Leben ein Ende setzt. In einer Gesellschaft, in der aus eingebildetem Mangel, die Nachfrage das Vielfache des tatsächlichen Bedarfs übersteigt, nützt kein Um-Verteilen, sondern nur noch ein Um-Denken – und zwar auf breiter Basis und bei jedem Einzelnen; eben ein verändertes Bewusstsein.
In diesem Zusammenhang hilft ein lineares Denken nicht weiter, das davon ausgeht, dass das eine die Folge des anderen sei. Bzw. das eine das andere ausschlißt. Vielmehr ist dieses ein zirkulärer Prozess, bei dem sich beide – Sein und Bewusstsein – miteinander entwickeln. Man wäre hier wieder bei “Spiral Dynamics”.
Wenn es uns nicht gelingt ein anderes Bewusstsein zu entwickeln,
dann wird es auch kein Sein mehr geben!
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